Mai 2015

es – immer wieder gelingt es (Link zu lyrikline)

frühling
immer wieder gelingt es
immer wieder dringt es
immer wieder treibt es
immer wieder lockt es
immer wieder berührt es
immer wieder verführt es
immer wieder schreibt es

xxxxxxsommer
immer wieder stockt es
immer wieder schaut es
immer wieder traut es
immer wieder greift es
immer wieder füllt es

xxxxxxherbst
immer wieder reift es
immer wieder hüllt es
immer wieder reicht es

xxxxxxwinter
immer wieder gleicht es

xxxxxxfrühling
immer wieder gelingt es

Eugen Gomringer (1925)

April 2015

Kleiner Friede

in der durchsichtigen Stunde
am Levkojengrab
im Abendrot trompetet Jenseits.
Gloriole des Palmenblattes
Wüstenoffenbarung der Einsamkeit.
Der Ahne Leben
Im leuchtenden Andachtsbuch
ruhend auf Murmelbaches Schlummerrolle
und Muschel an das Ohr gelegt
mit Spieluhrmelodie.
O grosser Ozean im kleinen Ohr!
O Menuett der Liebe
oblatenzartes Stundenbuch
auch das war Leben –
der gleiche Schlaf in schwarz Magie
und Dorn der die vergessene Rose
des Blutes
in Erinnerung sticht
gezähnter Blitz
in des Gewitters Maskentanz
verdunkelnd
auf diese Elfenbeinküste.

Nelly Sachs (1891 – 1970)
(aus: Das Buch der Nelly Sachs, 1968)

März 2015

Kaspar Hauser Lied
Für Bessie Loos

Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.

Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!

Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend;
Die dunkle Klage seines Munds:
Ich will ein Reiter werden.

Ihm aber folgte Busch und Tier,
Haus und Dämmergarten weisser Menschen
Und sein Mörder suchte nach ihm.

Frühling und Sommer und schön der Herbst
Des Gerechten, sein leiser Schritt
An den dunklen Zimmern Träumender hin.
Nachts blieb er mit seinem Stern allein;

Sah, dass Schnee fiel in kahles Gezweig
Und im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders.

Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.

Georg Trakl (1887 – 1914)

Februar 2015

Lob der Faulheit

Faulheit, endlich muss ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen!
O!… Wie… sauer… wird es mir
Dich nach Würde zu besingen!
Doch ich will mein Bestes tun:
Nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut, wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben. . .
Ach!… ich gähn!… ich… werde matt.
Nun, so magst du mir’s vergeben,
Dass ich dich nicht singen kann:
Du verhinderst mich ja dran.

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)

Januar 2015

mein himmel

mein himmel ist hier und jetzt
mein himmel ist meine vorstellung
von himmel
er ist die freundlichkeit
verlässlichkeit
anteilnahme
bei glücks- und unglücksfällen
mein himmel ist nicht voller geigen
sondern voll solidarität
mein himmel ist auch eine utopie
von einer gerechteren welt
in der einsicht und nachsicht
tägliche realität sein sollte
himmel ist das festgeknüpfte netz
ähnlich denkender und fühlender
und das glück
ihm anzugehören
wenn es noch einen anderen himmel
geben sollte
lasse ich mich überraschen

Elfriede Gerstl (1932 – 2009)

Dezember 2014

Tänzerin

Der Tanz ist aus. Mein Herz ist süss wie Nüsse,
und was ich denke blüht mir aus der Haut.
Wenn ich jetzt sacht mir in die Knöchel bisse,
sie röchen süsser als der Sud Melisse,
der rot und klingend in der Kachel braut.

Sprich nicht von Tanz und nicht von Mond und Baum
und ja nicht von der Seele, sprich jetzt nicht.
Mein Kleid hat einen riesenbreiten Saum,
damit bedeck ich Füsse und Gesicht.

Sprich nicht von Tanz und nicht von Stern und Traum
und ja nicht von der Seele, lass uns schweigen.
Mein Kleid hat einen riesenbreiten Saum,
darin ruht verwahrt der Dinge Sinn und Reigen.

Ich wollte Schnee sein mitten im August,
und langsam von den Rändern her vergeh’n
Langsam mich selbst vergessen, ich hätt’ Lust,
dabei mir selber singend zuzuseh’n.

Silja Walter (1919 – 2011)

November 2014

Die Unwissenden

Es heisst
die von nichts
gewusst hatten
waren naiv

Im Gegenteil:
Es war damals
sehr praktisch
von nichts zu wissen

Und später dann
war es weise
von gar nichts
gewusst zu haben

Nur Dummköpfe
oder Narren
versuchten
alles zu wissen

Und die Suche
nach Wissen
brachte viele von ihnen
ums Leben

Drum fehlen uns jetzt
diese Dummköpfe
und diese Narren
so bitter

Erich Fried (1921 – 1988)

September 2014

Heideröslein
(Comedian Harmonist)

Sah ein Knab ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!“
Röslein sprach: „Ich steche dich,
Dass du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.“
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.
Und der wilde Knabe brach
‘s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Musst es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

August 2014

Im Atemhaus

Unsichtbare Brücken spannen
von dir zu Menschen und Dingen
von der Luft zu deinem Atem

Mit Blumen sprechen
die du liebst

Im Atemhaus wohnen
eine Menschblumenzeit

Rose Ausländer (1901 – 1988)
(aus: Gesamtwerk in 16 Bd.)