Januar 2019

Was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Erich Fried (1921 – 1988)

Mai 2018

Weltgeheimnis

Der tiefe Brunnen weiss es wohl,
Einst waren alle tief und stumm,
Und alle wussten drum.

Wie Zauberworte, nachgelallt
Und nicht begriffen in den Grund,
So geht es jetzt von Mund zu Mund.

Der tiefe Brunnen weiss es wohl;
In den gebückt, begriffs ein Mann,
Begriff es und verlor es dann.

Und redet’ irr und sang ein Lied –
Auf dessen dunklen Spiegel bückt
Sich einst ein Kind und wird entrückt.

Und wächst und weiss nichts von sich selbst
Und wird ein Weib, das einer liebt
Und – wunderbar wie Liebe gibt!

Wie Liebe tiefe Kunde gibt! –
Da wird an Dinge, dumpf geahnt,
In ihren Küssen tief gemahnt…

In unsern Worten liegt es drin,
So tritt des Bettlers Fuss den Kies,
Der eines Edelsteins Verlies.

Der tiefe Brunnen weiss es wohl,
Einst aber wussten alle drum,
Nun zuckt im Kreis ein Traum herum.

Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929)

April 2018

Der Blumengarten

Am See tief zwischen Tann und Silberpappel
Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten
So weise angelegt mit monatlichen Blumen
Dass er vom März bis zum Oktober blüht.

Hier in der Früh, nicht allzu häufig, sitz ich
Und wünsche mir, auch ich mög allezeit
In den verschiednen Wettern, guten, schlechten
Dies oder jenes Angenehme zeigen.

Bertolt Brecht (1898  1956)

März 2018

Der Flügelflagel

Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz.

Christian Morgenstern (1871 – 1914)

Dezember 2017

Alles still!

Alles still! Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.

Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.

Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.

Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze durch die Nacht –
Heisse Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.

Theodor Fontane (1819 – 1898)

November 2017

Nebel

Wir sitzen traurig Hand in Hand,
Die gelbe Sonnenrose,
Die strahlende Braut Gottes,
Leuchtet erdenabgewandt.

Und wie golden ihr Blick war,
Und unsere Augen weiten
Sich fragend wie Kinderaugen,
Weiss liegt die Sehnsucht schon auf unserm Haar.

Und zwischen den kahlen Buchen
Steigen ruhelose Dunkelheiten,
Auferstandene Nächte,
Die ihre weinenden Tage suchen.

Es schliessen sich wie Rosen
Unsere Hände; du, wir wollen
Wie junge Himmel uns lieben
Im Kranz von grauen Grenzenlosen.

Ein tiefer Sommer wird schweben
Auf laubigen Flügeln zur Erde,
Und eine rauschende Süsse
Strömt durch das schwermütige Leben

Und was werden wir beide spielen…
Wir halten uns fest umschlungen
Und kugeln uns über die Erde,
Über die Erde.

Else Lasker-Schüler (1869 – 1945)

Oktober 2017

konterkariert

kann keiner kentern?
einer könnte kontern.
keiner konnte kentern!

kann keiner kontern?
einer könnte kugeln.
keiner konnte kontern!

kann keiner kugeln?
einer könnte kokeln.
keiner konnte kugeln!

kann keiner kokeln?
einer könnte kicken.
keiner konnte kokeln!

kann keiner kicken?
einer könnte kacken.
keiner könnte kicken!

kann keiner kacken?
einer könnte kotzen
keine konnte kacken!

kann keiner kotzen?
einer könnte kitzeln.
keiner konnte kotzen!

kann keiner kitzeln?
einer könnte küssen.
keiner konnte kitzeln!

kann keiner küssen?
einer könnte kauen.
keiner konnte küssen!

kann keiner kauen?
einer könnte kungeln.
keiner konnte kauen!

kann keiner kungeln?
einer könnte köpfen.
keiner konnte kungeln!

kann keiner köpfen?
einer könnte kullern.
keiner konnte köpfen!

kann keiner kullern?
einer könnte keinen.
keiner konnte kullern.

Franz Mon (*1926)

September 2017

Fröhlicher Regen

Wie der Regen tropft, Regen tropft,
An die Scheiben klopft!
Jeder Strauch ist nass bezopft.

Wie der Regen springt!
In den Blättern singt
Eine Silberuhr.
Durch das Gras hin läuft,
Wie eine Schneckenspur,
Ein Streifen weiss beträuft.

Das stürmische Wasser schiesst
In die Regentonne,
Dass die überfliesst,
Und in breitem Schwall
Auf den Weg bekiest
Stürzt Fall um Fall.

Und der Regenriese,
Der Blauhimmelhasser,
Silbertropfenprasser,
Niesend fasst er in der Bäume Mähnen,
Lustvoll schnaubend in dem herrlich vielen Wasser.

Und er lacht mit fröhlich weissen Zähnen
Und mit kugelrunden, nassen Freudentränen.

Georg Britting (1891 – 1964)

März 2017

Der Fischer

Hier sitz ich mit lässigen Händen,
In still behaglicher Ruh,
Und schaue den spielenden Fischlein
Im glitzernden Wasser zu.
Sie jagen und gehen und kommen;
Doch werf ich die Angel aus,
Flugs sind sie von dannen geschwommen,
Und leer kehr ich abends nach Haus.

Versucht ichs und trübte das Wasser,
Vielleicht geläng es eh;
Doch müsst ich dann auch verzichten,
Sie spielen zu sehen im See.

Franz Grillparzer (1791 – 1872)

Februar 2017

Vorfrühling

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigen’s.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)