September 2015

Der Sonnenuntergang

Der Sonnenwagen nahet
Dem letzten Himmelsabhang,
An dessen Fusse plätschernd
Die Meereswellen tanzen.
Die Sonnenpferde strengen
Sich an, der nahen Kühlung
Sich freuend und der Ruhe.
Schon ist das Tagsgestirne
Dem Meer so nahe, dass es
Bereits sein Bild im Schoosse
Der stillen Wellen siehet.
Es kommen stets einander
Die beiden Sonnen näher,
Zwei Königen vergleichbar
Mit ihrem Prachtgefolge,
Die froh, an ihrer Reiche
Gemeinschaftliche Gränze,
Wie Brüder sich einander
Entgegen gehn. Die Säume
Der glühendrothen Räder
Des müden Sonnenwagens
Berühren nun die Wellen,
Die zischend ihn umkreisen.
Seht! eine Silberbrücke
Schwimmt auf dem Meer, und führet
Die Sonne zu dem Schiffe,
Worin, tiefeingeschlummert,
Sie auf des breiten Weltstroms
Entlegenem Gewoge
Zum Morgenthor zurückfährt,
Um Sterblichen und Göttern
Den neuen Tag zu bringen.

Elisabeth Kulmann (1808 – 1825)