Der Reichston (erster Teil)
Ich saz ûf eime steine,
und dahte bein mit beine;
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer werlte solte leben:
deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der deheinez niht verdurbe.
diu zwei sint êre und varnde guot,
der ietwederz dem andern schaden tuot,
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolte ich gerne in einen schrîn.
jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und werltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîg unde wege sint in benomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze;
fride unde reht sint sêre wunt.
diu driu enhabent geleites niht,
diu zwei enwerden ê gesunt.
Walther von der Vogelweide (gilt als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters)
Neuhochdeutsch: Ich sass auf einem Stein / und schlug ein Bein über das andere; / darauf setzte ich den Ellenbogen; / in meine Hand hatte ich das / Kinn und eine Wange geschmiegt. / So dachte ich eindringlich nach, / auf welche Weise man auf der Welt leben müsse: / Keinen Rat konnte ich aber geben, / wie man drei Dinge so erwerben könne, / ohne dass eines von ihnen zugrunde ginge. / Zwei von ihnen sind Ehre und Besitz, / die einander oft schaden, / das dritte ist Gottes Gnade, / die viel mehr wert ist als die beiden andern. / Diese wollte ich gerne zusammen in einem Kästchen. / Aber leider ist es nicht möglich, / dass Besitz und weltliche Ehre / und Gottes Gnade / zusammen in ein Herz kommen. / Weg und Steg sind ihnen genommen: / Verrat liegt auf der Lauer, / Gewalt beherrscht die Strasse; / Friede und Recht sind schwer verwundet. / Die drei haben keine Sicherheit, bevor die zwei nicht gesund werden.