September 2013

Im Bureau

Der Mond blickt zu uns hinein,
er sieht mich als armen Kommis
schmachten unter dem strengen Blick
meines Prinzipals.

Ich kratze verlegen am Hals,
Dauernden Lebenssonnenschein
kannte ich noch nie.
Mangel ist mein Geschick;
kratzen zu müssen am Hals
unter dem Blick des Prinzipals.

Der Mond ist die Wunde der Nacht,
Blutstropfen sind alle Sterne.
Ob ich dem blühenden Glück auch ferne,
ich bin dafür bescheiden gemacht.
Der Mond ist die Wunde der Nacht.

Robert Walser (1878 – 1956)

August 2013

Lass doch das ewige Fragen

Lass doch das ewige Fragen,
Verehrter alter Freund.
Ich will von selbst schon sagen,
Was mir vonnöten scheint.
Du sagst vielleicht dagegen:
Man fragt doch wohl einmal.
Gewiss! Nur allerwegen
Ist mir‘s nicht ganz egal.
Bei deinem Fragestellen
Hat eines mich frappiert:
Du fragst so gern nach Fällen,
Wobei ich mich blamiert.

Wilhelm Busch (1832 – 1908)
(aus: Kritik des Herzens)

Juli 2013

Langschläfers Morgenlied

Der Wecker surrt. Das alberne Geknatter
Reisst mir das schönste Stück des Traums entzwei.
Ein fleißig Radio übt schon sein Geschnatter.
Pitt äußert, dass es Zeit zum Aufstehn sei.

Mir ist vor Frühaufstehern immer bange. …
Das können keine wackern Männer sein:
Ein guter Mensch schläft meistens gern und lange.
— Ich bild mir diesbezüglich etwas ein …

Das mit der goldgeschmückten Morgenstunde
Hat sicher nur das Lesebuch erdacht.
Ich ruhe sanft. — Aus einem kühlen Grunde:
Ich hab mir niemals was aus Gold gemacht.

Der Wecker surrt. Pitt malt in düstern Sätzen
Der Faulheit Wirkung auf den Lebenslauf.
Durchs Fenster hört man schon die Autos hetzen.
— Ein warmes Bett ist nicht zu unterschätzen. …
Und dennoch steht man alle Morgen auf.

Mascha Kaléko (1907 – 1975)
(aus: Das lyrische Stenogrammheft)