Juli 2014

Die Geranien (Link zu lyrikline)

Den Sommer lang sind sie und in Blüte gewesen, blühen sie noch auch hier.
Jetzt und ohne jene Dichte oder Wohlanständigkeit, Vollbartbärtigkeit, Fensterfröhlichkeit.
Wuchern sie und über die Ränder von den Trögen, gleichen ihre Blätter Trichtern, Herbsttrompeten.
Tragen sie und vereinzelt Blütenköpfe, hochrot oder lila und verblühte, Storchenschnäbel.
Und bedecken den Boden verstreut mit Tropfen wie von Blut oder blasseren, Fächern, färben aus.
Oder rollen sich ein unter dem Besen, wenn sein Stroh über den Klinker wischt, fast gezischt hat.
Auf den Steinplatten, und das Laub geknistert, die welken Dolden zwischen den bleichen Fingern, noch am Abend.
Noch jetzt, vor einem römischen Himmel, bevor sie schwarz vor Schwermut auf der Balkonmauer stehen.

Michael Donhauser (1956)
(aus: Die Wörtlichkeit der Quitte, 1990)

Und euch, Geranien

Und euch, Geranien, oft seid ihr
Und überhängend ein Gruss mir, seid
Ein Wanken und gewesen, in den längeren
Euren Stengeln, euren Blüten, Blättern
Und unerkannt lange Zeit Zeichen nur

Der Stattlichkeit, denn in Wolken
Habt ihr die Balkone, die Fenster, habt
Das Eigentum ihr geschmückt und blütenreich
Ist euer Lob so seines nur gewesen, doch
Habe ich euch und schon früher erkannt

Und erkenne euch jetzt und gefunden
An den zarten, euren Lippen und wieder
Den roten, röteren oder blasseren, bleichen
Den Fächern, eurem Zittern, wenn ihr und weicht
Im Wind, dem Wind und widerscheint

Warm, noch und aus dem Blattwerk jetzt
Dem dichten, eurer Blätter und vielzählig
Und vereinzelt, dass die Tröge und übergehen
Überhängen, bevor ihr wütend durchzaust
Und im Kreis euch die Blüten treiben

Wie getrieben, wie einst und kühler
Vom Feuchten des Meeres, dem Wind, wenn
Und ein Welken in euren Blättern, ein Vergilben
Verblühen, ein Weichen euch wie jetzt, wie
Erinnert so vergänglich noch und bewegt

Michael Donhauser (1956)
(aus: ich habe lange nicht doch nur an dich gedacht, 2005)

(Hier kann meine Arbeit zur Gedichtinterpretation heruntergeladen werden.)

Juni 2014

was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie gross wie klein das Leben als Mensch
wie gross wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie gross wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume

du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

für Heinz Lunzer

Friederike Mayröcker (1924)

 

Mai 2014

Der Reichston (erster Teil)

Ich saz ûf eime steine,
und dahte bein mit beine;
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer werlte solte leben:
deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der deheinez niht verdurbe.
diu zwei sint êre und varnde guot,
der ietwederz dem andern schaden tuot,
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolte ich gerne in einen schrîn.
jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und werltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîg unde wege sint in benomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze;
fride unde reht sint sêre wunt.
diu driu enhabent geleites niht,
diu zwei enwerden ê gesunt.

Walther von der Vogelweide (gilt als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters)

Neuhochdeutsch: Ich sass auf einem Stein / und schlug ein Bein über das andere; / darauf setzte ich den Ellenbogen; / in meine Hand hatte ich das / Kinn und eine Wange geschmiegt. / So dachte ich eindringlich nach, / auf welche Weise man auf der Welt leben müsse: / Keinen Rat konnte ich aber geben, / wie man drei Dinge so erwerben könne, / ohne dass eines von ihnen zugrunde ginge. / Zwei von ihnen sind Ehre und Besitz, / die einander oft schaden, / das dritte ist Gottes Gnade, / die viel mehr wert ist als die beiden andern. / Diese wollte ich gerne zusammen in einem Kästchen. / Aber leider ist es nicht möglich, / dass Besitz und weltliche Ehre / und Gottes Gnade / zusammen in ein Herz kommen. / Weg und Steg sind ihnen genommen: / Verrat liegt auf der Lauer, / Gewalt beherrscht die Strasse; / Friede und Recht sind schwer verwundet. / Die drei haben keine Sicherheit, bevor die zwei nicht gesund werden.

April 2014

Zähle die Mandeln

Zähle die Mandeln,
zähle, was bitter war und dich wachhielt,
zähl mich dazu:

Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah,
ich spann jenen heimlichen Faden,
an dem der Tau, den du dachtest,
hinunterglitt zu den Krügen,
die ein Spruch, der zu niemandes Herz fand, behütet.

Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist,
schrittest du sicheren Fusses zu dir,
schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens,
stiess das Erlauschte zu dir,
legte das Tote den Arm auch um dich,
und ihr ginget selbdritt durch den Abend.

Mache mich bitter.
Zähle mich zu den Mandeln.

Paul Celan (1920 – 1970)

 

März 2014

Am Turme

Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm,
umstrichen vom schreienden Stare,
und lass’ gleich einer Mänade den Sturm
mir wühlen im flatternden Haare;
o wilder Geselle, otoller Fant,
ich möchte dich kräftig umschlingen,
und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh’ ich am Strand, so frisch
wie spielende Doggen, die Wellen
sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch
und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht’ ich hinein alsbald
recht in die tobende Meute
und jagen durch den korallenen Wald
das Walroß, die lustige Beute!

Und drüben seh’ ich ein Wimpel wehn
so keck wie eine Standarte,
seh’ auf und nieder den Kiel sich drehn
von meiner luftigen Warte;
o, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff,
das Steuerruder ergreifen
und zischend über das brandende Riff
wie eine Seemöve streifen.

Wär’ ich ein Jäger auf freier Flur,
ein Stück nur von einem Soldaten,
wär’ ich ein Mann doch mindestens nur,
so würde der Himmel mir raten;
nun muß ich sitzen so fein und klar
gleich einem artigen Kinde
und darf nur heimlich lösen mein Haar
und lassen es flattern im Winde!

Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)
(aus: Fels, Wald und See)

Februar 2014

Nun schlummert meine Seele

Der Sturm hat ihre Stämme gefällt,
O, meine Seele war ein Wald.
Hast du mich weinen gehört?
Weil deine Augen bang geöffnet stehn.
Sterne streuen Nacht
In mein vergossenes Blut.
Nun schlummert meine Seele
Zagend auf Zehen.
O, meine Seele war ein Wald;
Palmen schatteten,
An den Ästen hing die Liebe.
Tröste meine Seele im Schlummer.

Else Lasker-Schüler (1869 – 1945)
(aus: Meine Wunder, 1911)

Januar 2014

Das
æsthetische
Wiesel

Ein Wiesel
sass auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

Wisst ihr,
weshalb?

Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:

Das raffinier-
te Tier
tat’s um des Reimes willen.

Christian Morgenstern (1871 – 1914)
(aus: Alle Galgenlieder, 1932)

Dezember 2013

Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.

Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann (1926 – 1973)

November 2013

Die Nacht streckt ihre Finger aus

Die Nacht streckt ihre Finger aus
Sie findet mich in meinem Haus
Sie setzt sich unter meinen Tisch
Sie kriecht wird gross sie windet sich
Und der Rauch schwimmt durch den Raum
Wächst zu einem schönen Baum
Den ich leicht zerstören kann –
Ich rauche einen neuen, dann
Zähl ich alle meinen lieben
Freunde an den Fingern ab
Es sind zu viele Finger, die ich hab
Zu wenig Freunde sind geblieben
Streckt die Nacht die Finger aus
Findet sie mich in meinem Haus
Rauch schwimmt durch den leeren Raum
Wächst zu einem Baum
Der war vollbelaubt mit Worten
Worten, die alsbald verdorrten
Schiffchen schwimmen durch die Zweige
Die ich heut nicht mehr besteige

Sarah Kirsch (1935 – 2013)
(aus: Zaubersprüche. Gedichte, 1974)

Oktober 2013

Der Radwechsel

Ich sitze am Strassenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Bertolt Brecht (1898 – 1956)
(aus: Werke, Bd. 12, Gedichte, Bd. 2, 1988, S. 310)